Cover
Titel
Verfolgen und Aufklären / Crimes Uncovered. Die erste Generation der Holocaustforschung / The First Generation of Holocaust Researchers


Herausgeber
Jasch, Hans-Christian; Lehnstaedt, Stephan
Erschienen
Berlin 2019: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
352 S., mit Abb.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Schlott, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Mit der deutschen Übersetzung der Memoiren von Léon Poliakov1, der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Joseph Wulf und Ernst Jünger2 sowie einer neuen Biographie H.G. Adlers3 erlebt die Historiographiegeschichte des Holocaust derzeit eine besondere Konjunktur. Die Aufzählung von thematisch einschlägigen Neuerscheinungen ließe sich ergänzen, etwa um einen Interviewband mit Saul Friedländer4 oder einen Sammelband zu Leben, Werk und Wirkung von Christopher Browning.5 Gemeinhin gilt Raul Hilberg als Pionier der Holocaustforschung.6 Dass dies jedoch nur mit Einschränkung stimmt, zeigt ein neuer Band zur „ersten Generation“ von Frauen und Männern, die sich zum Teil noch während der deutschen Besatzung oder bereits kurz nach Kriegsende – als der Judenmord noch nicht „Holocaust“ hieß, sondern mit dem jiddischen Wort für Katastrophe und Zerstörung als „churbn“ bezeichnet wurde – der Dokumentation des Verbrechens und seiner Strafverfolgung widmeten.

Der Publikation dieses verdienstvollen Bandes ging eine von Teilnehmer/innen des Masterstudiengangs „Holocaust Communication and Tolerance“ am Berliner Touro College gestaltete Ausstellung voraus, an der neben der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz auch die Wiener Library London beteiligt war. Anlass war der 70. Jahrestag der Genozidkonvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 (Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), sodass ein Schwerpunkt auf den Protagonisten der juristischen Aufarbeitung wie Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht liegt.7

Der Katalog gibt die gut drei Dutzend Ausstellungstafeln wieder, mit denen die Biographien von 23 Persönlichkeiten der frühen Holocaustforschung in Schrift, Bild und Dokumenten auf Deutsch und Englisch präsentiert werden. Neben bekannten Namen wie Joseph Wulf, Rachel Auerbach und Léon Poliakov kommen auch bislang eher unbekannte Forscherinnen und Forscher der ersten Stunde vor – wie Maria Hochberg-Mariańska (1913–1996), eine polnische Jüdin, die nach Kriegsende die Geschichte jüdischer Kinder unter der deutschen Besatzung dokumentierte, oder Massimo Adolfo Vitale (1885–1968), ein italienischer Jude und Veteran des Ersten Weltkrieges, der schon 1946 eine Dokumentation zur Verfolgung der Juden in Italien vorlegte und eine umfangreiche Liste der Deportierten erstellte. Zugleich erinnert die Ausstellung an drei „vergessene Forscherinnen“, die oft im Schatten der in Führungspositionen tätigen Männer standen und von denen zum Teil nicht einmal die genauen Lebensdaten bekannt sind: Ada Eber (die Ehefrau Philip Friedmans), Nella Rost und Genia Silkes.

Der biographische Teil des Katalogs wird ergänzt mit durchweg lesenswerten themenbezogenen Beiträgen zu den Dokumentationsanstrengungen unmittelbar nach Kriegsende in verschiedenen europäischen Ländern und Palästina/Israel. Hervorzuheben ist das in den Text integrierte Bild- und Kartenmaterial, das nicht rein illustrativ bleibt, sondern eine eigene Erzählung liefert. Eine Übersicht zeigt fast 30 historische Kommissionen (mit lokalen Zweigstellen sogar 100), die es seinerzeit in West- und Osteuropa gab und in denen sich anfangs mehrheitlich nicht-akademisch ausgebildete Historiker engagierten (S. 192).8 Ein Schwerpunkt lag dabei auf Polen, dem sich die Aufsätze von Stephan Stach und Katrin Stoll widmen. Stach erläutert, wie rasch sich die Forschung der lokalen wissenschaftlichen Kommissionen jüdischer „survivor scholars“ institutionalisierte und im Jahr 1947 zur Gründung des bis heute bestehenden „Jüdischen Historischen Instituts“ in Warschau führte. Zugleich macht er klar, dass die Forschung von Beginn an einer Instrumentalisierung durch die Kommunisten ausgesetzt war, dass ein Institutsleiter wie Ber (Bernard) Mark in seiner Amtszeit (1949–1966) aber den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Freiräume verschaffte und den wissenschaftlichen Kontakt über die Grenzen der entstandenen ideologischen Blöcke aufrechterhielt. Stoll, die 2018 erstmals den Nachlass von Nachman Blumental vollständig sichten konnte, dem ersten Direktor des Warschauer Instituts, berichtet von seinem lebenslangen Projekt: einem Wörterbuch der NS-Sprache, dessen erster Band 1947 unter dem Titel „Słowa niewinne“ („Unschuldige Wörter“) erschien und die Buchstaben von A bis I umfasste; weitere Bände kamen nicht mehr zustande. Blumental wanderte wie andere seiner polnischen Kollegen Anfang der 1950er-Jahre nach Israel aus und engagierte sich als Historiker im „Ghetto Fighters' House“, das zum Gedenken an die Toten des Warschauer Ghettoaufstandes noch vor der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem gegründet worden war. Wie sehr die Erinnerung an die Shoah auch in Israel politisiert wurde, stellt Nadav Heidecker, ein Archivmitarbeiter des „Ghetto Fighters' House“, in seinem Beitrag dar.

Die Ausstellung wandert nun von Berlin, wo sie zuerst im Auswärtigen Amt zu sehen war, buchstäblich um die Welt.9 Im Februar dieses Jahres war sie etwa zeitgleich im Leipziger Rathaus und im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York zu sehen. So unterstreichen die Orte der Ausstellung das, was sie zeigt: den Holocaust als Forschungsaufgabe einer frühen „global community“ (S. 14) und als Ereignis der gegenwärtigen globalen Erinnerung.

Anmerkungen:
1 Léon Poliakov, St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen. Aus dem Französischen von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alexander Carstiuc, Berlin 2019.
2 Ernst Jünger / Joseph Wulf, Der Briefwechsel 1962–1974, hrsg. von Anja Keith und Detlev Schöttker, Frankfurt am Main 2019.
3 Vgl. Josefine Langer, Rezension zu: Peter Filkins, H.G. Adler. A Life in Many Worlds, Oxford 2019, in: H-Soz-Kult, 13.01.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28684 (06.02.2020).
4 Saul Friedländer, Erzählen, Erklären. Ein Gespräch mit Stéphane Bou, Zürich 2019.
5 Thomas Pegelow Kaplan / Jürgen Matthäus / Mark W. Hornburg (Hrsg.), Beyond „Ordinary Men“. Christopher R. Browning and Holocaust Historiography, Paderborn 2019.
6 René Schlott (Hrsg.), Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie, Göttingen 2019.
7 Das Engagement von Lemkin und Lauterpacht wurde vor wenigen Jahren auch mit literarischem Anspruch verarbeitet in: Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt am Main 2018 (engl. Originalausgabe New York 2016).
8 Vor wenigen Jahren wurden frühe Berichte der polnischen Kommission erstmals ins Deutsche übersetzt: Frank Beer / Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944–1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Berlin 2014. Zu Ungarn siehe Regina Fritz, Eine frühe Dokumentation des Holocaust in Ungarn. Die „Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen“ (1945), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 352–368, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2017/5496 (06.02.2020).
9 Fotos der Ausstellung, Presseberichte und die nächsten Stationen finden sich unter https://widerstand.hypotheses.org/2573 (06.02.2020).